Von Projekten und Schatten II
Juli 06
Nach dem Shandur Festival bleibe ich noch 2 Tage in Chitral. Die Stunden sind gefüllt mit Meetings, allerdings nicht ganz so stressig wie man sich das in Europa vorstellen würde. Nach einer langen Zeit in der sich wenig ergeben hatte, überstürzen sich nun die Ereignisse. Ich bin froh gelernt zu haben, Dinge erwarten zu können.
Ich bekomme Angebote von Pharmafirmen. Sie wollen ihre Ärztemuster zu uns ins Tal schicken und die Dispensary ausrüsten. Außerdem schlägt ein Repräsentant dieser Firma vor, ein freies medizinisches Camp zu organisieren. Ärzte würden direkt ins Tal kommen, alle Patienten untersuchen, gratis Medizin zur Verfügung stellen – und das alles zum Preis des Mittagsessens der Ärzte. Wenn das kein Angebot ist. Ich finde es zwar ein wenig ungerecht den Kalash gegenüber, dass diese Repräsentanten – die ja nicht den ersten Tag hier arbeiten – nur mich fragen. Ich verstehe ihre Beweggründe gut, eine Angrez muss man mit noch mehr Hilfsbereitschaft beeindrucken – vielleicht nehmen sie sich auch nur ein Beispiel, aber sie hätten schon lange diese Dinge anbieten können – einem Kalash.
Mit Hilfe einer sehr engagierten Politikerin können wir auch den DHO (District Health Officer) und den Chefarzt im Spital Chitral überzeugen, bei einem unserer Projekte mitzuarbeiten. Wir wollen ein paar Mädels zur Hebammenausbildung schicken. Da es keine adäquate Ausbildungsmöglichkeit gibt (entweder 3 Tage Kurztraining oder 1 Jahr nach Karachi) fragen wir nach, ob wir nicht direkt mit den Frauenärzten zusammen arbeiten können und eben diese jungen Frauen direkt ins Krankenhaus schicken dürfen.
Im Frauenhaus gibt es keine ausgebildeten Hebammen oder Ärzte. Ein paar TBAs sind da (3 Tage Training) und einige ältere Frauen mit viel Erfahrung. Den neuen Stand der Medizin, neue Geräte, Wissen über Hygiene, Ernährung oder Familienplanung kennen sie jedoch nicht. Ich würde mir eine Symbiose aus Älteren und Jungen wünschen, erstere bringen Praxis mit, letztere neues Wissen. Gespräche mit den Älteren haben ergeben, dass sie sehr dafür sind, das Training am Liebsten selber machen würden, aber eben nicht Urdu lesen können, was bei diesem Training Voraussetzung sein wird.
Auch von der CBS Schule kommen nun Anfragen. Vor einiger Zeit habe ich angedeutet, dass es ein wenig Geld gäbe, um die seit der Erbauung in der nicht-funktionierenden Toilette gelagerte Wasserleitung zu verlegen. Für die Arbeit wird nichts bezahlt, schließlich ist es eine Community Schule, es gibt genug Väter die für ihre Kinder einen Tag graben können. Den Zement für den Tank und einen Maurer werden wir zahlen, der Rest sollte von der Gemeinschaft erledigt werden.
Lange Zeit hatte ich nichts gehört, glaubte schon, dass sie lieber auf potentiellere Geldgeber, die ihnen auch noch die Arbeit zahlen warten werden. Aber der Vorsitzende kommt nun auf mich zu und fragt nach. Die Väter würden arbeiten. Ich bitte also um eine Kostenaufstellung. Mal sehen was kommt.
Einige Male brechen wir noch auf nach Chitral, ich muss auch meinen Flug verschieben, so habe ich noch ein paar Tage mehr in meinen geliebten Tälern. Einige Patienten gesellen sich zu uns, eine alte Frau mit Schmerzen im Bein, ein Kind mit schwerem Durchfall, eine Frau ebenso. Magenprobleme scheinen zu grassieren und trotz meinem mit Micropur gereinigtem Wasser entgehe ich dem Virus nicht. Anfangs denke ich an eine kleine Magenverstimmung, die immer wieder mal auftaucht. Schnell werde ich eines Besseren belehrt. Mein Magen hält gar nichts mehr. Ich versuche es mit Zwieback, Bananen und Cola, greife dann zu Kohletabletten, Bioflorin und später Immodium. Zwischendurch trinke ich Isostar, um nicht völlig auszutrocknen und einige Minerale im Körper zu haben – danke dem edlen Spender, der mir dies in Bhutan hinterlassen hat!
Als ich mir eingestehen muss, dass es wohl nicht nur eine kleine Verstimmung ist, greife ich widerwillig zu Antibiotika, die hier alle sehr einfach in Apotheken erhältlich sind. Meine sind aber immer noch aus Österreich. So gut sie schon einmal geholfen hatten – hier wirken sie nicht. 4 Tage schon hatte ich nichts im Magen, bin schwach und schaffe es nicht mehr, weit zu gehen. In der zweiten Nacht kommt hohes Fieber dazu. Ich dampfe gerade zu, abwechselnd mit Kälteschauern, am Morgen ist es allerdings wieder verschwunden. Alle Dorfbewohner kommen vorbei, erkundigen sich nach meinem Befinden, plaudern ein wenig, spielen mir Musik vor, bringen Essen – von dem ich schon beim Ansehen zur Toilette laufen muss: Fleisch in viel Öl, Gemüse in viel Öl, Nüsse, Bohnen. Ich wundere mich über das völlig fehlende Wissen über Nahrungskunde und Hausmittel. „Du bist krank, weil du so weit weggegangen bist (Shandur), du solltest hier bleiben!“ meinen viele.
Eine Frau bringt Joghurt mit irgendeinem Kräuterlein, welches angeblich helfen soll. Weit ist sie marschiert um dies für mich zu holen. „Weil du mir auch so geholfen hast!“ Sie kam vor einer Woche mit völlig von siedendem Öl verbrannter Hand zu mir. 5 Tage nach dem Unfall, weil ich am Shandur war. Sie hatte eine Paste aus frischen Walnüssen und Honig über die offene Wunde geschmiert und wollte mit den anhaltenden Schmerzen nicht zum Arzt. Sie hatte Angst er würde ihre Paste unter Schmerzen abwaschen. Ich musste dies zwar auch tun, aber mit Kamillentee und Wattebausch. Ein wenig Bachblütencreme und in 2 Tagen war die Hand wieder in Ordnung.
Ihr Joghurt hilft leider auch nicht, nicht mal Tabletten bleiben lange genug in meinem Magen um sich aufzulösen.
Am Nachmittag kommen Muhib, ein effizienter Freund wenn’s ums organisieren geht und Wahab, mittlerweile auch ein Freund und Repräsentant dieser Pharmafirma. Sie wollen den Ablauf des Camps und der Medikamentenlieferung besprechen. Ich werde zu dieser Zeit nicht in Pakistan sein, Shah wird die Organisation im Tal übernehmen.
Das erste Gespräch mit den ausgewählten Mädchen für das Hebammen Training sollte auch stattfinden. Es wird ernst.
Wir hatten Treffen organisiert und die jungen Damen aufgefordert, sich das ganze durch den Kopf gehen zu lassen, sich zu überlegen, ob sie Zeit und erforderliche Ausbildung hätten und die Erlaubnis der Eltern – die braucht man hier solange man nicht verheiratet ist – oder die des Ehemannes einzuholen.
Nun stehen, etwas scheu und trotzdem neugierig, 4 erwartungsvoll kichernde Ladies auf der Veranda und hörten sich den Projektablauf noch mal genauer an. Muhib würde für ihre Unterbringung während des Trainings verantwortlich sein.
Wahab will mit seinem Motorrad eine für mich Infusion aus der Stadt holen, kommt aber nach einer halben Stunde zurück – Motorrad kaputt…
Sie müssen einen Jeep mieten, das Motorrad aufladen und nehmen mich auch noch mit, ab ins Krankenhaus. Nach den anstrengenden Gesprächen bin ich ziemlich fertig, mir ist schwindelig, ich bin müde. Der Jeep bringt uns nach Ayun, wo das Gefährt repariert werden soll. Muhib und ich suchen eine Fahrgelegenheit in die Stadt. Einer nimmt uns mit bis über die Brücke, dort hocken wir wieder. Ich bekomme nicht viel mit um mich, bin erschöpft von den 3 Schritten und will nur schlafen.
Nach einer halben Stunde kommt endlich ein passendes Auto, wir steigen ein und werden direkt zum Spital gefahren.
Zum ersten Mal bin ich nun als Patient hier. Der diensthabende Nachtarzt kennt mich nur flüchtig von meinen Besuchen mit anderen Patienten, er ist nicht jener mit dem guten Ruf, zu dem ich meine Patienten bringe. Er verschreibt mir haufenweise Medikamente, die Wahab für mich besorgt. Inzwischen werde ich in das Zimmer geführt – mindestens 24 Betten und 3x so viele Leute sind schon dort – und so riecht es auch. Wo in westlichen Spitälern dieser schale sterile Geruch alles andere übertönt, ist er hier fast gar nicht wahrzunehmen. Die Wände, wohl irgendwann mal weiß gewesen, sind bedeckt mit Spritzern jeglicher Farbe, deren Herkunft ich gar nicht genau wissen will. Die Bettlaken passen ebenfalls zu diesem Design. Ich mach es mir so bequem wie möglich und breite meinen Schal auf das grausige Kopfkissen. Trotz 3 Jahren in Asien kann ich mich mit dem Kopf noch nicht direkt in den Dreck legen – und möchte es auch nie können wollen.
Der Tropf wird aufgehängt, ich gebe der Schwester eine saubere Nadel – Nadeln müssen ohnehin selbst gekauft werden, wie alle anderen Medikamente auch. Sie fuchtelt damit im Zimmer herum und verschwindet kurz, was mich veranlasst, ihr eine neue aufzudrängen. Sie schießt dann den kleinen Schmetterling an sein Ziel, der Venflon sitzt, weitere Infusionen - Antibiotika, wie könnte es anders sein hier - werden zum Tropf gehängt.
3 Stunden dauert der Spaß. Wahab will mich danach bei seiner Familie unterbringen – nicht im Krankenhaus, dafür bin ich heilfroh.
Muhib bringt Cola und Bananen, eine Schüssel Reis mit viel Öl und frisches Naan. Den Reis lasse ich aus, den Rest verleibe ich mir binnen kürzester Zeit ein.
Nach dem ich fertig bin bringen mich die beiden in ein Taxi, wir fahren zu Wahabs Haus. Nach einem leichten Abendmahl – ich bin richtig hungrig – lege ich mich zu Bett, schlafe schnell ein.
Nach einer Stunde – so ca. um Mitternacht – werde ich geweckt, ich bin ein wenig verwirrt. Wahab erzählt, dass sein Onkel gerade gestorben sei und es ihm sehr Leid tue, aber wir müssen in ein anderes Haus weil hier bald die Trauergäste eintreffen würden. Die Tradition will, dass Tote gleich am selben Tag eingegraben werden. Ich stehe als auf, sage ihm noch er solle sich bitte nicht bei mir entschuldigen für Unannehmlichkeiten sondern sich lieber um seine Gäste kümmern. Wir werden in ein Auto verfrachtet, das plötzlich vor dem Haus steht, der Fahrer rast durchs nächtliche Chitral als ob ihn der Teufel persönlich verfolgen würde. Nach 5 Minuten sind wir beim Haus des Bruders, welches leer steht, da der Bruder im Süden studiert.
Ich lege mich wieder nieder, und schlafe diesmal herrlich bis zum Morgen, erwache mit hungrigem Magen. Ich bin glücklich, endlich wieder wohlauf zu sein, sehe wieder mal, dass ich meine Gesundheit viel zu selbstverständlich genommen hatte und freu mich an jedem Bissen, der länger als 2 Minuten in meinem Magen verweilt.
Nach dem ich schon in Chitral bin treibe ich die Organisation der Projekte ein wenig vorwärts – heißt ich spreche wieder mit den zuständigen Personen, höre einfach ob noch alles passt – was nicht immer zutrifft. Änderungen bei Unterkunft der Mädels und Zeitpunkt des Trainings sind nötig.
Zuhause macht Mama nun jeden Tag Reis ohne Öl – eine furchtbar fade Angelegenheit, aber mein Magen bedankt sich mit fast einwandfreier Funktion. Ich will ihn ja nicht gleich überfordern. Grüner Tee ohne Zucker ist ebenfalls immer da, und nun ist auch das Joghurt hilfreich um die Darmflora ein wenig aufzubauen.
Die letzten Tage sind entspannt, Freunde kommen noch vorbei um sich zu verabschieden, auch Imtiaz kommt noch mal ins Tal, bringt Früchte aus seinem Garten. Ihn werde ich auch noch am letzten Tag in Chitral treffen, vor der geplanten Abfahrt nach Peshawar, wo ich ins Flugzeug steigen werde.
In den letzten Monaten durfte ich schon manchmal Tee kochen und Gäste bewirten, langsam aber sicher wechsele ich vom Gast zur richtigen Familienangehörigen, mit den dazugehörigen Pflichten. Wäre es früher nie möglich gewesen, Tee zu kochen oder im Haushalt mehr als nur spielerisch und ausnahmsweise mitzuhelfen, funktioniert das nun schon prächtig. Meine Kalash Mama hat ebenfalls keine Scheu mehr mich um Hilfe zu bitten, schickt mich Wasser holen, Ziegen melken, Tee kochen und zu guter Letzt werde ich noch in die hohe Kunst des Brotmachens eingeführt.
Erst darf ich die dünnen Fladen am Ofen wenden, dann sie selber entstehen lassen. So flink und einfach sieht es aus, wenn Mama das macht. Teig aus Mehl und Wasser anrühren bis er geschmeidig flüssig ist, eine Handvoll herausnehmen und in kreisförmigen Bewegungen auf der Platte verteilen, bis der Teig dünn ist und eine runde Form hat.
Das kann ja nicht so schwer sein. Den ersten Teig hat eine Nachbarin für mich gemacht, damit ich ein Gefühl für die richtige Konsistenz bekommen kann. Das erste Problem sind meine Hände. Ich bin Linkshänderin, meine Rechte, mit der ich das Brot machen muss ist nicht sehr geschickt. Ich schöpfe also ungelenk eine Portion Teig aus der flachen Schüssel und versuche schnellstmöglich Richtung Onza zu befördern. Ein Windstoss treibt mir Rauch und Tränen in die Augen, der Teig tropft beidseitig aus der Hand, ich ziehe eine Spur über die Platte, muss lachen. Der Teigrest, der übrig bleibt reicht gerade für ein Minibrot. Ich verstreiche es, brenne fast meine Finger bei der letzten Streichbewegung über den dünnen Teig – die Finger befinden sich keinen Millimeter über der heißen Platte unter der das Feuer lodert. Nur mal schnell Brot machen, ja?
Der 2. Versuch landet zum Großteil auf meinem Kleid und meinen Armen, die Platte sieht aus wie ein Schlachtfeld. Mama sitzt daneben und grinst. „Schön machst du das!“, meint sie.
Also weiter. Hände abstreifen, neuen Teig holen, zur Platte schwingen, aus der Hand quetschen, verstreichen – Vorsicht Finger! – Wirklich groß und rund wird bei diesem Erstversuch kein Brot, aber es schmeckt. Von Tag zu Tag geht es besser, die Handgriffe gehen ins Blut über, es ist ein stolzer Tag als Gäste zum ersten Mal mein Brot essen (vorher hatten wir es selbst gegessen). Für die Kalash ist dies ein wichtiger Integrationsprozess für meine Person. Brot machen können, die Sprache sprechen, die kulturellen Regeln kenne und befolgen – sei es auch nur aus Respekt – bedeutet sehr viel hier.
Umso schwerer fällt es, das Tal zu verlassen, obwohl ich schon das Rückflugticket bestätigt bekommen habe. In der Nacht wird getanzt, ich nehme noch einige meiner Lieblingslieder mit dem Skype Mikrofon in nicht allzu guter Qualität auf – für die Erinnerung allemal gut genug. Am Morgen höre ich Jamil die ersten Töne von ‚Acchi gos a no’ anschlagen um mich zu wecken. Ich habe schon gepackt, viele Dinge bleiben im Tal, nur das Nötigste werde ich mitnehmen. Mama ist nicht da, ich werde sie in Chitral treffen – sie kommt von einer Nacht bei den heißen Quellen. Shah und Papa ebenfalls. Der Abschied nach Chitral ist also nicht so schlimm, trotzdem kullern ein paar Krokodilstränen meine Wangen hinab, als sich der Jeep langsam aus dem Tal ackert. Ich lächle innerlich über mich. Ich kenne das Theater schließlich schon vom letzten Abschied im Oktober.
Mein Flug ist von Peshawar über Doha nach München gebucht. das heißt ich muss nicht nach Lahore oder gar Karachi. Es tut mir zwar Leid, Javeds Familie nicht noch mal zu sehen, aber es gibt bis zum letzten Tag viele Dinge zu erledigen hier.
Den letzten Tag muss ich wieder in Chitral verbringen, letzte organisatorische Kleinigkeiten müssen noch geregelt werden, der einheimische Knochendoktor bekommt noch Bandagen für seine Patienten, Schecks für die Bezahlung der Projekte während meiner Abwesenheit werden ausgestellt, ich gebe bei der Bank bescheid, damit es nicht zu Problemen kommt. Einige Schecks wurden schon abgewiesen, weil ich meine Namensteile verdreht hatte oder das letzte ‚a’ bei Isabella mit viel Fantasie wie ein ‚e’ aussah.
Die Abfahrt ist wie immer erst verschoben und dann plötzlich stressig. Sikander, Tehsil Nasim Mastuj und Teamkapitän der siegreichen Chitrali Mannschaft beim Shandur Polo und dessen Sohn Ali, ebenfalls Polospieler und angehender Pilot, bieten mir eine Mitfahrgelegenheit nach Peshawar in letzter Sekunde.
Es tut gut mit Bekannten zu fahren, die meine Heimwehgedanken ein bisschen verjagen, beim Vorbeifahren an der Einfahrt zum Tal bin ich aber alles andere als Unternehmungslustig oder bereit zur Abfahrt. Gedankenverloren starre ich ins Tal bis auch der letzte Baum hinter der Biegung verschwindet. Im Hintergrund höre ich Jamil mein Lieblingslied spielen, glaube an eine Sinnestäuschung bis ich merke, dass wirklich gerade dieses Lied von der Kassette leiert. Ich belächle mich wieder selbst für die kitschigen Zufälle, denen ich früher nicht viel abgewinnen konnte, zumindest nicht so starke Gefühlsregungen, kann aber nix tun gegen die Tränen, die schon wieder laufen. Ich versuche zu reden oder zu singen, um mich ein wenig abzulenken. Es hilft besser als letztes Mal, aber richtig gut…?
Sikander (ich glaube das kommt von Alexander dem Großen) lädt mich sogar ein, in seinem Haus zu bleiben, bis mein Flug in 3 Tagen gehen würde.
Wir unterhalten uns lange, auch er gehört zu dem neuen, jungen und motivierten politischen Team der Gegend um Chitral. Seine Erklärungen und Beweggründe scheinen authentisch humanitären Hintergrund zu haben, sind nicht die üblichen Floskeln aus den Wahlkampfversprechen. Ich wünsche ihm viel Glück.
Die Odyssee zum Flugticket erleichtert mir ein anderer Freund, der während ich noch in Chitral war alles gebucht hatte. Nach dem es nun neuerdings Mobiltelefone (Handy, Natel) gibt in Chitral, war das ein wenig einfacher.
Ja die Handys in Chitral… das ist auch eine Odyssee. Letztes Jahr, kurz vor dem Kaschmirerdbeben waren die Techniker schon am Werk, die Stadt Chitral zu vernetzen. Nach dem Erdbeben wurden sie nach Kaschmir versetzt, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Die Politiker, die für ihre Wahl unter anderem auch die Vernetzung Chitrals versprochen hatten wagten nun nicht, der Bevölkerung zu erklären, dass sie die Techniker wegschicken mussten. So erfanden sie ein anderes Gerücht: Die Fluggesellschaft PIA, (die einzige die nach Chitral fliegt) hätte sich über störende Masten in der Anflugbahn beschwert, nun müsse das Projekt gestoppt und überprüft werden.
3 Masten wurden in den vergangenen Monaten aufgestellt, im Handyrausch verkauften die Verantwortlichen doppelt so viele Verbindungen wie vorgesehen – und brachten so das Netz zum Absturz. Absturz ist vielleicht zu grob – man kann ca. zwischen Mitternacht und 3 Uhr mit einer Verbindung rechnen, ansonsten eher zufällig bis gar nicht.
Man denkt nun daran, das Netz in die Täler auszubreiten.
Am 31 Juli hebt das Flugzeug frühmorgens ab, das Teufelchen auf meiner Schulter will mich immer noch überreden, das Ticket umzutauschen und doch nach Chitral heim zufliegen, in den 2 Stunden Wartezeit wegen Verspätung bin ich manchmal drauf und dran umzudrehen und raus zu laufen.
Aber 2 Monate Europa werde ich schon aushalten, Familie und Freunde wieder sehen, ein paar Vorträge halten, Geschäftliches regeln für meinen Weiteren Aufenthalt in Pakistan…
Nach dem Shandur Festival bleibe ich noch 2 Tage in Chitral. Die Stunden sind gefüllt mit Meetings, allerdings nicht ganz so stressig wie man sich das in Europa vorstellen würde. Nach einer langen Zeit in der sich wenig ergeben hatte, überstürzen sich nun die Ereignisse. Ich bin froh gelernt zu haben, Dinge erwarten zu können.
Ich bekomme Angebote von Pharmafirmen. Sie wollen ihre Ärztemuster zu uns ins Tal schicken und die Dispensary ausrüsten. Außerdem schlägt ein Repräsentant dieser Firma vor, ein freies medizinisches Camp zu organisieren. Ärzte würden direkt ins Tal kommen, alle Patienten untersuchen, gratis Medizin zur Verfügung stellen – und das alles zum Preis des Mittagsessens der Ärzte. Wenn das kein Angebot ist. Ich finde es zwar ein wenig ungerecht den Kalash gegenüber, dass diese Repräsentanten – die ja nicht den ersten Tag hier arbeiten – nur mich fragen. Ich verstehe ihre Beweggründe gut, eine Angrez muss man mit noch mehr Hilfsbereitschaft beeindrucken – vielleicht nehmen sie sich auch nur ein Beispiel, aber sie hätten schon lange diese Dinge anbieten können – einem Kalash.
Mit Hilfe einer sehr engagierten Politikerin können wir auch den DHO (District Health Officer) und den Chefarzt im Spital Chitral überzeugen, bei einem unserer Projekte mitzuarbeiten. Wir wollen ein paar Mädels zur Hebammenausbildung schicken. Da es keine adäquate Ausbildungsmöglichkeit gibt (entweder 3 Tage Kurztraining oder 1 Jahr nach Karachi) fragen wir nach, ob wir nicht direkt mit den Frauenärzten zusammen arbeiten können und eben diese jungen Frauen direkt ins Krankenhaus schicken dürfen.
Im Frauenhaus gibt es keine ausgebildeten Hebammen oder Ärzte. Ein paar TBAs sind da (3 Tage Training) und einige ältere Frauen mit viel Erfahrung. Den neuen Stand der Medizin, neue Geräte, Wissen über Hygiene, Ernährung oder Familienplanung kennen sie jedoch nicht. Ich würde mir eine Symbiose aus Älteren und Jungen wünschen, erstere bringen Praxis mit, letztere neues Wissen. Gespräche mit den Älteren haben ergeben, dass sie sehr dafür sind, das Training am Liebsten selber machen würden, aber eben nicht Urdu lesen können, was bei diesem Training Voraussetzung sein wird.
Auch von der CBS Schule kommen nun Anfragen. Vor einiger Zeit habe ich angedeutet, dass es ein wenig Geld gäbe, um die seit der Erbauung in der nicht-funktionierenden Toilette gelagerte Wasserleitung zu verlegen. Für die Arbeit wird nichts bezahlt, schließlich ist es eine Community Schule, es gibt genug Väter die für ihre Kinder einen Tag graben können. Den Zement für den Tank und einen Maurer werden wir zahlen, der Rest sollte von der Gemeinschaft erledigt werden.
Lange Zeit hatte ich nichts gehört, glaubte schon, dass sie lieber auf potentiellere Geldgeber, die ihnen auch noch die Arbeit zahlen warten werden. Aber der Vorsitzende kommt nun auf mich zu und fragt nach. Die Väter würden arbeiten. Ich bitte also um eine Kostenaufstellung. Mal sehen was kommt.
Einige Male brechen wir noch auf nach Chitral, ich muss auch meinen Flug verschieben, so habe ich noch ein paar Tage mehr in meinen geliebten Tälern. Einige Patienten gesellen sich zu uns, eine alte Frau mit Schmerzen im Bein, ein Kind mit schwerem Durchfall, eine Frau ebenso. Magenprobleme scheinen zu grassieren und trotz meinem mit Micropur gereinigtem Wasser entgehe ich dem Virus nicht. Anfangs denke ich an eine kleine Magenverstimmung, die immer wieder mal auftaucht. Schnell werde ich eines Besseren belehrt. Mein Magen hält gar nichts mehr. Ich versuche es mit Zwieback, Bananen und Cola, greife dann zu Kohletabletten, Bioflorin und später Immodium. Zwischendurch trinke ich Isostar, um nicht völlig auszutrocknen und einige Minerale im Körper zu haben – danke dem edlen Spender, der mir dies in Bhutan hinterlassen hat!
Als ich mir eingestehen muss, dass es wohl nicht nur eine kleine Verstimmung ist, greife ich widerwillig zu Antibiotika, die hier alle sehr einfach in Apotheken erhältlich sind. Meine sind aber immer noch aus Österreich. So gut sie schon einmal geholfen hatten – hier wirken sie nicht. 4 Tage schon hatte ich nichts im Magen, bin schwach und schaffe es nicht mehr, weit zu gehen. In der zweiten Nacht kommt hohes Fieber dazu. Ich dampfe gerade zu, abwechselnd mit Kälteschauern, am Morgen ist es allerdings wieder verschwunden. Alle Dorfbewohner kommen vorbei, erkundigen sich nach meinem Befinden, plaudern ein wenig, spielen mir Musik vor, bringen Essen – von dem ich schon beim Ansehen zur Toilette laufen muss: Fleisch in viel Öl, Gemüse in viel Öl, Nüsse, Bohnen. Ich wundere mich über das völlig fehlende Wissen über Nahrungskunde und Hausmittel. „Du bist krank, weil du so weit weggegangen bist (Shandur), du solltest hier bleiben!“ meinen viele.
Eine Frau bringt Joghurt mit irgendeinem Kräuterlein, welches angeblich helfen soll. Weit ist sie marschiert um dies für mich zu holen. „Weil du mir auch so geholfen hast!“ Sie kam vor einer Woche mit völlig von siedendem Öl verbrannter Hand zu mir. 5 Tage nach dem Unfall, weil ich am Shandur war. Sie hatte eine Paste aus frischen Walnüssen und Honig über die offene Wunde geschmiert und wollte mit den anhaltenden Schmerzen nicht zum Arzt. Sie hatte Angst er würde ihre Paste unter Schmerzen abwaschen. Ich musste dies zwar auch tun, aber mit Kamillentee und Wattebausch. Ein wenig Bachblütencreme und in 2 Tagen war die Hand wieder in Ordnung.
Ihr Joghurt hilft leider auch nicht, nicht mal Tabletten bleiben lange genug in meinem Magen um sich aufzulösen.
Am Nachmittag kommen Muhib, ein effizienter Freund wenn’s ums organisieren geht und Wahab, mittlerweile auch ein Freund und Repräsentant dieser Pharmafirma. Sie wollen den Ablauf des Camps und der Medikamentenlieferung besprechen. Ich werde zu dieser Zeit nicht in Pakistan sein, Shah wird die Organisation im Tal übernehmen.
Das erste Gespräch mit den ausgewählten Mädchen für das Hebammen Training sollte auch stattfinden. Es wird ernst.
Wir hatten Treffen organisiert und die jungen Damen aufgefordert, sich das ganze durch den Kopf gehen zu lassen, sich zu überlegen, ob sie Zeit und erforderliche Ausbildung hätten und die Erlaubnis der Eltern – die braucht man hier solange man nicht verheiratet ist – oder die des Ehemannes einzuholen.
Nun stehen, etwas scheu und trotzdem neugierig, 4 erwartungsvoll kichernde Ladies auf der Veranda und hörten sich den Projektablauf noch mal genauer an. Muhib würde für ihre Unterbringung während des Trainings verantwortlich sein.
Wahab will mit seinem Motorrad eine für mich Infusion aus der Stadt holen, kommt aber nach einer halben Stunde zurück – Motorrad kaputt…
Sie müssen einen Jeep mieten, das Motorrad aufladen und nehmen mich auch noch mit, ab ins Krankenhaus. Nach den anstrengenden Gesprächen bin ich ziemlich fertig, mir ist schwindelig, ich bin müde. Der Jeep bringt uns nach Ayun, wo das Gefährt repariert werden soll. Muhib und ich suchen eine Fahrgelegenheit in die Stadt. Einer nimmt uns mit bis über die Brücke, dort hocken wir wieder. Ich bekomme nicht viel mit um mich, bin erschöpft von den 3 Schritten und will nur schlafen.
Nach einer halben Stunde kommt endlich ein passendes Auto, wir steigen ein und werden direkt zum Spital gefahren.
Zum ersten Mal bin ich nun als Patient hier. Der diensthabende Nachtarzt kennt mich nur flüchtig von meinen Besuchen mit anderen Patienten, er ist nicht jener mit dem guten Ruf, zu dem ich meine Patienten bringe. Er verschreibt mir haufenweise Medikamente, die Wahab für mich besorgt. Inzwischen werde ich in das Zimmer geführt – mindestens 24 Betten und 3x so viele Leute sind schon dort – und so riecht es auch. Wo in westlichen Spitälern dieser schale sterile Geruch alles andere übertönt, ist er hier fast gar nicht wahrzunehmen. Die Wände, wohl irgendwann mal weiß gewesen, sind bedeckt mit Spritzern jeglicher Farbe, deren Herkunft ich gar nicht genau wissen will. Die Bettlaken passen ebenfalls zu diesem Design. Ich mach es mir so bequem wie möglich und breite meinen Schal auf das grausige Kopfkissen. Trotz 3 Jahren in Asien kann ich mich mit dem Kopf noch nicht direkt in den Dreck legen – und möchte es auch nie können wollen.
Der Tropf wird aufgehängt, ich gebe der Schwester eine saubere Nadel – Nadeln müssen ohnehin selbst gekauft werden, wie alle anderen Medikamente auch. Sie fuchtelt damit im Zimmer herum und verschwindet kurz, was mich veranlasst, ihr eine neue aufzudrängen. Sie schießt dann den kleinen Schmetterling an sein Ziel, der Venflon sitzt, weitere Infusionen - Antibiotika, wie könnte es anders sein hier - werden zum Tropf gehängt.
3 Stunden dauert der Spaß. Wahab will mich danach bei seiner Familie unterbringen – nicht im Krankenhaus, dafür bin ich heilfroh.
Muhib bringt Cola und Bananen, eine Schüssel Reis mit viel Öl und frisches Naan. Den Reis lasse ich aus, den Rest verleibe ich mir binnen kürzester Zeit ein.
Nach dem ich fertig bin bringen mich die beiden in ein Taxi, wir fahren zu Wahabs Haus. Nach einem leichten Abendmahl – ich bin richtig hungrig – lege ich mich zu Bett, schlafe schnell ein.
Nach einer Stunde – so ca. um Mitternacht – werde ich geweckt, ich bin ein wenig verwirrt. Wahab erzählt, dass sein Onkel gerade gestorben sei und es ihm sehr Leid tue, aber wir müssen in ein anderes Haus weil hier bald die Trauergäste eintreffen würden. Die Tradition will, dass Tote gleich am selben Tag eingegraben werden. Ich stehe als auf, sage ihm noch er solle sich bitte nicht bei mir entschuldigen für Unannehmlichkeiten sondern sich lieber um seine Gäste kümmern. Wir werden in ein Auto verfrachtet, das plötzlich vor dem Haus steht, der Fahrer rast durchs nächtliche Chitral als ob ihn der Teufel persönlich verfolgen würde. Nach 5 Minuten sind wir beim Haus des Bruders, welches leer steht, da der Bruder im Süden studiert.
Ich lege mich wieder nieder, und schlafe diesmal herrlich bis zum Morgen, erwache mit hungrigem Magen. Ich bin glücklich, endlich wieder wohlauf zu sein, sehe wieder mal, dass ich meine Gesundheit viel zu selbstverständlich genommen hatte und freu mich an jedem Bissen, der länger als 2 Minuten in meinem Magen verweilt.
Nach dem ich schon in Chitral bin treibe ich die Organisation der Projekte ein wenig vorwärts – heißt ich spreche wieder mit den zuständigen Personen, höre einfach ob noch alles passt – was nicht immer zutrifft. Änderungen bei Unterkunft der Mädels und Zeitpunkt des Trainings sind nötig.
Zuhause macht Mama nun jeden Tag Reis ohne Öl – eine furchtbar fade Angelegenheit, aber mein Magen bedankt sich mit fast einwandfreier Funktion. Ich will ihn ja nicht gleich überfordern. Grüner Tee ohne Zucker ist ebenfalls immer da, und nun ist auch das Joghurt hilfreich um die Darmflora ein wenig aufzubauen.
Die letzten Tage sind entspannt, Freunde kommen noch vorbei um sich zu verabschieden, auch Imtiaz kommt noch mal ins Tal, bringt Früchte aus seinem Garten. Ihn werde ich auch noch am letzten Tag in Chitral treffen, vor der geplanten Abfahrt nach Peshawar, wo ich ins Flugzeug steigen werde.
In den letzten Monaten durfte ich schon manchmal Tee kochen und Gäste bewirten, langsam aber sicher wechsele ich vom Gast zur richtigen Familienangehörigen, mit den dazugehörigen Pflichten. Wäre es früher nie möglich gewesen, Tee zu kochen oder im Haushalt mehr als nur spielerisch und ausnahmsweise mitzuhelfen, funktioniert das nun schon prächtig. Meine Kalash Mama hat ebenfalls keine Scheu mehr mich um Hilfe zu bitten, schickt mich Wasser holen, Ziegen melken, Tee kochen und zu guter Letzt werde ich noch in die hohe Kunst des Brotmachens eingeführt.
Erst darf ich die dünnen Fladen am Ofen wenden, dann sie selber entstehen lassen. So flink und einfach sieht es aus, wenn Mama das macht. Teig aus Mehl und Wasser anrühren bis er geschmeidig flüssig ist, eine Handvoll herausnehmen und in kreisförmigen Bewegungen auf der Platte verteilen, bis der Teig dünn ist und eine runde Form hat.
Das kann ja nicht so schwer sein. Den ersten Teig hat eine Nachbarin für mich gemacht, damit ich ein Gefühl für die richtige Konsistenz bekommen kann. Das erste Problem sind meine Hände. Ich bin Linkshänderin, meine Rechte, mit der ich das Brot machen muss ist nicht sehr geschickt. Ich schöpfe also ungelenk eine Portion Teig aus der flachen Schüssel und versuche schnellstmöglich Richtung Onza zu befördern. Ein Windstoss treibt mir Rauch und Tränen in die Augen, der Teig tropft beidseitig aus der Hand, ich ziehe eine Spur über die Platte, muss lachen. Der Teigrest, der übrig bleibt reicht gerade für ein Minibrot. Ich verstreiche es, brenne fast meine Finger bei der letzten Streichbewegung über den dünnen Teig – die Finger befinden sich keinen Millimeter über der heißen Platte unter der das Feuer lodert. Nur mal schnell Brot machen, ja?
Der 2. Versuch landet zum Großteil auf meinem Kleid und meinen Armen, die Platte sieht aus wie ein Schlachtfeld. Mama sitzt daneben und grinst. „Schön machst du das!“, meint sie.
Also weiter. Hände abstreifen, neuen Teig holen, zur Platte schwingen, aus der Hand quetschen, verstreichen – Vorsicht Finger! – Wirklich groß und rund wird bei diesem Erstversuch kein Brot, aber es schmeckt. Von Tag zu Tag geht es besser, die Handgriffe gehen ins Blut über, es ist ein stolzer Tag als Gäste zum ersten Mal mein Brot essen (vorher hatten wir es selbst gegessen). Für die Kalash ist dies ein wichtiger Integrationsprozess für meine Person. Brot machen können, die Sprache sprechen, die kulturellen Regeln kenne und befolgen – sei es auch nur aus Respekt – bedeutet sehr viel hier.
Umso schwerer fällt es, das Tal zu verlassen, obwohl ich schon das Rückflugticket bestätigt bekommen habe. In der Nacht wird getanzt, ich nehme noch einige meiner Lieblingslieder mit dem Skype Mikrofon in nicht allzu guter Qualität auf – für die Erinnerung allemal gut genug. Am Morgen höre ich Jamil die ersten Töne von ‚Acchi gos a no’ anschlagen um mich zu wecken. Ich habe schon gepackt, viele Dinge bleiben im Tal, nur das Nötigste werde ich mitnehmen. Mama ist nicht da, ich werde sie in Chitral treffen – sie kommt von einer Nacht bei den heißen Quellen. Shah und Papa ebenfalls. Der Abschied nach Chitral ist also nicht so schlimm, trotzdem kullern ein paar Krokodilstränen meine Wangen hinab, als sich der Jeep langsam aus dem Tal ackert. Ich lächle innerlich über mich. Ich kenne das Theater schließlich schon vom letzten Abschied im Oktober.
Mein Flug ist von Peshawar über Doha nach München gebucht. das heißt ich muss nicht nach Lahore oder gar Karachi. Es tut mir zwar Leid, Javeds Familie nicht noch mal zu sehen, aber es gibt bis zum letzten Tag viele Dinge zu erledigen hier.
Den letzten Tag muss ich wieder in Chitral verbringen, letzte organisatorische Kleinigkeiten müssen noch geregelt werden, der einheimische Knochendoktor bekommt noch Bandagen für seine Patienten, Schecks für die Bezahlung der Projekte während meiner Abwesenheit werden ausgestellt, ich gebe bei der Bank bescheid, damit es nicht zu Problemen kommt. Einige Schecks wurden schon abgewiesen, weil ich meine Namensteile verdreht hatte oder das letzte ‚a’ bei Isabella mit viel Fantasie wie ein ‚e’ aussah.
Die Abfahrt ist wie immer erst verschoben und dann plötzlich stressig. Sikander, Tehsil Nasim Mastuj und Teamkapitän der siegreichen Chitrali Mannschaft beim Shandur Polo und dessen Sohn Ali, ebenfalls Polospieler und angehender Pilot, bieten mir eine Mitfahrgelegenheit nach Peshawar in letzter Sekunde.
Es tut gut mit Bekannten zu fahren, die meine Heimwehgedanken ein bisschen verjagen, beim Vorbeifahren an der Einfahrt zum Tal bin ich aber alles andere als Unternehmungslustig oder bereit zur Abfahrt. Gedankenverloren starre ich ins Tal bis auch der letzte Baum hinter der Biegung verschwindet. Im Hintergrund höre ich Jamil mein Lieblingslied spielen, glaube an eine Sinnestäuschung bis ich merke, dass wirklich gerade dieses Lied von der Kassette leiert. Ich belächle mich wieder selbst für die kitschigen Zufälle, denen ich früher nicht viel abgewinnen konnte, zumindest nicht so starke Gefühlsregungen, kann aber nix tun gegen die Tränen, die schon wieder laufen. Ich versuche zu reden oder zu singen, um mich ein wenig abzulenken. Es hilft besser als letztes Mal, aber richtig gut…?
Sikander (ich glaube das kommt von Alexander dem Großen) lädt mich sogar ein, in seinem Haus zu bleiben, bis mein Flug in 3 Tagen gehen würde.
Wir unterhalten uns lange, auch er gehört zu dem neuen, jungen und motivierten politischen Team der Gegend um Chitral. Seine Erklärungen und Beweggründe scheinen authentisch humanitären Hintergrund zu haben, sind nicht die üblichen Floskeln aus den Wahlkampfversprechen. Ich wünsche ihm viel Glück.
Die Odyssee zum Flugticket erleichtert mir ein anderer Freund, der während ich noch in Chitral war alles gebucht hatte. Nach dem es nun neuerdings Mobiltelefone (Handy, Natel) gibt in Chitral, war das ein wenig einfacher.
Ja die Handys in Chitral… das ist auch eine Odyssee. Letztes Jahr, kurz vor dem Kaschmirerdbeben waren die Techniker schon am Werk, die Stadt Chitral zu vernetzen. Nach dem Erdbeben wurden sie nach Kaschmir versetzt, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Die Politiker, die für ihre Wahl unter anderem auch die Vernetzung Chitrals versprochen hatten wagten nun nicht, der Bevölkerung zu erklären, dass sie die Techniker wegschicken mussten. So erfanden sie ein anderes Gerücht: Die Fluggesellschaft PIA, (die einzige die nach Chitral fliegt) hätte sich über störende Masten in der Anflugbahn beschwert, nun müsse das Projekt gestoppt und überprüft werden.
3 Masten wurden in den vergangenen Monaten aufgestellt, im Handyrausch verkauften die Verantwortlichen doppelt so viele Verbindungen wie vorgesehen – und brachten so das Netz zum Absturz. Absturz ist vielleicht zu grob – man kann ca. zwischen Mitternacht und 3 Uhr mit einer Verbindung rechnen, ansonsten eher zufällig bis gar nicht.
Man denkt nun daran, das Netz in die Täler auszubreiten.
Am 31 Juli hebt das Flugzeug frühmorgens ab, das Teufelchen auf meiner Schulter will mich immer noch überreden, das Ticket umzutauschen und doch nach Chitral heim zufliegen, in den 2 Stunden Wartezeit wegen Verspätung bin ich manchmal drauf und dran umzudrehen und raus zu laufen.
Aber 2 Monate Europa werde ich schon aushalten, Familie und Freunde wieder sehen, ein paar Vorträge halten, Geschäftliches regeln für meinen Weiteren Aufenthalt in Pakistan…